Cover
Titel
Gerettet – zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie und Wiedergutmachung


Autor(en)
Spuhler, Georg
Reihe
Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte des Instituts für Geschichte der ETH Zürich 7
Erschienen
Zürich 2011: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
229 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Stefanie Mahrer, Leo Beack Institut London und University of Sussex, UK

Der Historiker Gregor Spuhler erzählt in seinem Buch die Lebensgeschichte von Rolf Merzbacher, ein Leben, das sich, wie der Titel verrät, zwischen Verfolgung durch die Nationalsozialisten, psychischer Erkrankung und jahrzehntelanger Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken sowie Rechtsstreiten um Wiedergutmachung abspielte. Der Autor setzt sich in seinem Buch das Ziel, «Selbstverständlichkeiten aufzulösen, die Konfrontation eines einzelnen Menschen mit anderen Menschen und mit Institutionen genauer zu betrachten», um so über die Singularität des Falles hinaus «ein tiefer gehendes Verstehen der damaligen Gesellschaft» (S. 17) zu erreichen. Dabei will er sich der «Fallanalyse», die in der Medizin, der Rechtswissenschaft und den Sozialwissenschaften üblicher ist als in der Geschichtswissenschaft, bedienen, denn bei Merzbacher handelt es sich, so der Autor, «um einen historisch relevanten Fall, der in gewissen Bereichen Exemplarität beansprucht, ohne selbst Exempel zu sein» (S. 16). Dabei geht er chronologisch vor.

Im ersten Kapitel zeichnet er die Geschichte der Eltern Merzbacher nach. Die Zeitspanne ist so gewählt, dass sich die erfolgreiche Karriere des Vaters als Arzt im württembergischen Öhringen mit der Entrechtung und Vertreibung der einst respektierten und integrierten Familie kontrastieren liess. Das zweite Kapitel schildert die Jahre 1938 bis 1940, in denen die Eltern ihre zwei Söhne in die Schweiz in die Sicherheit schickten. Während sich Werner schnell eingewöhnen konnte, zeigte Rolf grosse Schwierigkeiten. Spuhler macht deutlich, dass der Jugendliche die Judenverfolgung und Emigration als Bruch in seiner Biographie wahrnahm. Insbesondere die Berufswahl machte dem jungen Mann Schwierigkeiten, galt er doch als guter Schüler und wünschte sich wie sein Vater Medizin zu studieren. Durch seinen Emigrantenstatus, den er nach Beendigung der Schulzeit hatte, war ihm jedoch jegliche Erwerbsarbeit verboten – er sollte als nur vorübergehend Geduldeter, seine Weiterreise vorbereiten. Kapitel drei widmet sich der Deportation der Eltern nach Gurs und dem Briefwechsel der Eltern mit den Söhnen. Gegenseitige Sorge und die Hoffnung, doch noch ein Visum für Übersee zu erhalten, machen die zwei Jahre 1940 bis 1942 aus.

Das Emigrantenleben zwischen der Gärtnerlehre in Bottighofen und Tägerwilen, dem Emigrantenlager in Davesco, einem kurzen Aufenthalt in Kreuzlingen und wieder Tägerwilen wird im vierten Kapitel anhand von Selbstzeugnissen aufgearbeitet. Obwohl Merzbacher in dieser Zeit sich erstmals einer Therapie unterzog, versuchte er noch, sein Leben selber zu steuern. Spuhler zeigt, wie der junge Mann zwischen eigenen Wünschen, Bestrebungen, diese umzusetzen, politischen und gesetzlichen Einschränkungen und Zwang sowie der sich abzeichnenden psychischen Krankheit gefangen war. 1944 trat Merz-bacher freiwillig in die psychiatrische Klinik in Münsterlingen ein. Ab 1942 war er regelmässig für ambulante Behandlungen dort. Diese Zeitspanne wird im fünften Kapitel behandelt. Der Autor zeigt in diesem Kapitel, wie sich Merzbacher die Meinung der Psychiater, die Schizophrenie, die 1943 diagnostiziert wurde, lasse sich auf erbliche Belastung zurückführen, zu eigen machte. Merzbacher gab zuvor an, seine Geistesabwesenheit und Unsicherheit käme von der Trennung der Eltern und deren unsicheren Schicksals, vom Verlust einer familiären Anbindung
und der Unmöglichkeit, seinen Berufswunsch zu erfüllen. In Kapitel sechs werden die zahlreichen Versuche, den nun entmündigten Emigranten nach Ende des Krieges auszuweisen, thematisiert. Ohne Rücksicht auf den psychischen Zustand des Patienten wollte man den Unerwünschten loswerden. Deutlich wird dabei, dass die einzelnen Kantone die Weisungen des Bundes unterschiedlich interpretierten. Der Kanton Thurgau verweigerte Merzbacher das Dauerasyl. Im zweitletzten Kapitel werden die langwierigen Rechtsstreite um eine Wiedergutmachung nachgezeichnet. Hierin wird die Rolle der psychiatrischen Gutachten deutlich, denn bei Merzbacher ging es um weit mehr, als um die Rückerstattung gestohlener Vermögenswerte, es ging um «Wiedergutmachung » psychischer Schäden. Gutachter hatten zu klären, inwiefern die frühe Trennung von den Eltern sowie die spätere Deportation und Ermordung der Eltern als Ursache für seine psychische Erkrankung zu gelten haben oder ob eine familiäre Belastung, also eine Vererbung der Schizophrenie, vorliege. Unterschiedliche Lehrmeinungen trafen dabei aufeinander. Im achten Kapitel thematisiert der Autor die Auseinandersetzung der involvierten Protagonisten mit der Geschichte: Rolf Merzbacher, der sich nicht mehr an die Judenverfolgung und die Ermordung seiner Eltern erinnern konnte, einen ehemaligen Psychiater, der sich hinter die Therapiemethoden seiner Zeit stellte (Merzbacher unterzog sich zahlreichen Elektroschock- und Schlaftherapien), aber auch die Familie, die das Haus der Arztfamilie in Öhringen nach der Vertreibung der Familie übernahm.

Das Leben Rolf Merzbachers zu erzählen und in einem Buch einer breiteren Leserschaft bekannt zu machen, ist mehr als berechtigt. Gregor Spuhler ist es gelungen, dieses wahrlich schwierige Schicksal anhand einer breiten Quellenbasis zu rekonstruieren und zu problematisieren. Es bleibt jedoch bis zum Schluss unklar, was diese Darstellung von anderen modernen biographischen Ansätzen in der Geschichtswissenschaft abgrenzt. Der methodische Zugang der «Fallanalyse» wird eingangs des Buches erwähnt, dann aber an keiner Stelle mehr aufgegriffen. Als weiterer Kritikpunkt sind die zahlreichen Redundanzen anzufügen, die das Lesen zeitweilig mühsam machen. Dies ist umso bedauerlicher, als Spuhler eine eindrückliche Biographie gelungen ist, die einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus darstellt, hinter die grossen Darstellungen schaut und anhand einer Lebensgeschichte Handlungsmuster und -spielräume aufzuzeigen mag.

Zitierweise:
Stefanie Mahrer: Rezension zu: Gregor Spuhler: Gerettet – zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie und Wiedergutmachung. Zürich, Chronos Verlag, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 362-363

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 362-363

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